Zigeunerbach

Denken ist eine Funktion der Sprache. Wusste schon George Orwell.
Denken ist eine Funktion der Sprache. Wusste schon George Orwell.

Lustig ist das ... Leben?

Da kann man sagen, was man will: Ein Gutes hatte die Corona-Pandemie! Als das Virus durchs Schwabenland marodierte, konzentrierten sich die politischen Akteure auf ihren Job. Der da ist: Probleme lösen. Doch kaum ist ein Ende der Pandemie in Sicht, kaum muss nicht jeden Tag über lebens- und überlebenswichtige Sachlagen entschieden werden, da können sich Politik und Verwaltung wieder den Kasperiaden zuwenden, die Augsburg in der Welt der Satiriker zu einem Markenzeichen gemacht haben.

Der Grad der Rückkehr zum ganz normalen Wahnsinn Datschiburger Realität lässt sich immer gut in meiner Lieblingszeitung verfolgen. Kürzlich widmete sie einen prominenten Teil der lokalen Aufmacherseite einer Ankündigung, die die Welt erzittern ließ: Der „Zigeunerbach“ im Siebentischwald wird umbenannt. Wegen Rassismus und so.

Nun besteht der Vorteil meiner Lieblingszeitung darin, dass dort kompetente Journalisten mit profundem Wissen über die Stadt (und auch ihre Geschichte) arbeiten. Und deshalb bietet der Artikel wertvolle Informationen, die ich hier mal kurz zusammenfassen will.

Erstens: Der Zigeunerbach im Stadtwald soll in „Stempflebach“ umbenannt werden.

Zweitens: Der Vorstoß dazu kam „von ganz oben“ und war „Chefinnensache“.

Drittens: Den Namen „Zigeunerbach“ trägt der Zufluss zum Stempflesee seit 1765.

Viertens: Die Mehrheit für die Umbenennung war sicher, alle außer der AfD dafür.

Fünftens: Das Thema scheint der Redaktion so wichtig, dass für den Vorbericht die Lokalchefin und ihr Stellvertreter kongenial zur Feder griffen.

Für eine Einordnung der causa durch einen Kommentar (der ja auch in Pro-&-Contra-Form produziert werden könnte) hat das Engagement vor der Entscheidung jedoch nicht gelangt. Zu groß waren offenbar die Bedenken, Beifall aus der „falschen“ Ecke zu bekommen, wenn man den Plan aus der zweiten Etage des Verwaltungsgebäudes am Rathausplatz als das demaskieren würde, was es nun mal ist: eine zeitgeistige Schnapsidee.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Käme irgendwer auf die Idee, heutzutage eine Straße, einen Platz, einen Bach mit dem Z-Wort zu benennen, so bezöge er/sie/es die Prügel zurecht. Aber wir reden hier von einem 250 Jahre alten Flurnamen, dessen Änderung bis dato noch nicht einmal der Zentralverband der Sinti und Roma qua Amt auf dem Schirm hatte. Irgendwie fühlt man sich an den großen Kabarettisten Dieter Hildebrandt erinnert, der einmal über einen Politiker ätzte, er sei „ständig auf der Suche nach einer Lobby, die er vertritt". Heutzutage bemüht man dafür die Rassismuskeule ...

In diesem Kontext drängt sich eine Frage an die Akteure in Sitzungssälen und Amtsstuben auf: „Habt ihr eigentlich nichts Wichtigeres zu tun?“ Schulen sanieren beispielsweise, oder Verkehrswege. Umweltgerechte Mobilität fördern oder das Gesundheitswesen. Alten- oder Kinderbetreuung, Sozialarbeit oder Seniorenbetreuung intensivieren? Nein, vermutlich nicht. Zeitgeistiges Politgeblubber ist halt nun mal schneller in Beschlüsse zu fassen als harte, konkrete Sacharbeit.

Dass hohler Aktionismus die Gesellschaft nicht verbessert, steht auf einem anderen Blatt: Wir werden nicht „gut“, weil wir das Böse nicht sehen oder nicht mehr sehen können. Wäre es so, dann müsste man ja auch die Reden eines Hitler oder Stalin umschreiben, damit sie in die politisch korrekte Welt des Heute passen.

Wir schreiben zwar das Jahr 2021, aber was George Orwell von 1946 bis 1948 unter dem frischen Eindruck der Nazi-Propaganda in seiner genialen Dystopie „1984“ beschrieb, wurde zwar nicht zum „fahrplanmäßigen“ Termin Wirklichkeit, vieles an den derzeitigen Umbenennungs- und Sprachregelungsdebatten jedoch erinnert an sein Werk. Wer sich nicht mehr so recht an das Buch erinnern kann, das noch immer auf den Lehrplänen zu finden ist, kann es übrigens hier nachlesen. Es lohnt sich immer noch.

Ist das Zigeunerleben lustig? In Augsburg jedenfalls nicht. (Fotomontage: Oregon National Historic Trail/wiki commons)
Ist das Zigeunerleben lustig? In Augsburg jedenfalls nicht. (Fotomontage: Oregon National Historic Trail/wiki commons)

Orwell beschreibt darin eine Welt in dauerhaftem Krieg, die in die drei verfeindeten Machtblöcke Ozeanien, Eurasien und Ostasien aufgeteilt ist. Die Handlung des Romans spielt in Ozeanien. In dem diktatorisch und totalitär geführten Staat unterdrückt eine vom – nie wirklich sichtbaren – Großen Bruder geführte Parteielite die restlichen Parteimitglieder und die breite Masse des Volkes, die „Proles“. Orwells Protagonist Winston Smith ist ein kleines Rädchen in der Propagandamaschinerie: Im „Wahrheitsministerium“, einem gigantischen Fälscherimperium, bereinigt er Texte im Sinne der Partei, indem politisch in Ungnade gefallene Personen gelöscht und nicht mehr genehme Worte durch den amtlichen „Neusprech“ ersetzt werden. Durch Sprachplanung sollen Ausdrucksmöglichkeiten beschränkt und so die Freiheit des Denkens verunmöglicht werden. Der totalitäre Staat benutzt Neusprech, um auf das Unterbewusstsein der Menschen Einfluss zu nehmen.

Wer 1984 im Hier und Heute liest, entdeckt erstaunliche Parallelen. Natürlich ist der derzeitige Umbenennungswahn nicht totalitär. Natürlich sind die einzelnen Schritte demokratisch legitimiert. Natürlich darf Kritik daran geäußert werden – in diesem Blog etwa, der den Applaus von der „falschen“ Seite zumindest nicht fürchtet, wenn er ihn auch nicht verhindern könnte. Aber mit Orwell im Hinterkopf sollte jeder, dem die Freiheit zu denken und zu sagen, was er denkt, wichtig ist, Sprachregelungen „von oben“ ablehnen. Denn wer Sprache regeln will, will auch das Denken regeln. Und das darf nicht sein!

Fortsetzung folgt – fürchte ich.

 

 

 

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