Warum George Orwell recht hatte

„Big Brother is watching you“, warnte George Orwell in „1984“. Im Deutschland der Gegenwart wollen uns dagegen viele Brüder- und Schwesterlein kontrollieren.
„Big Brother is watching you“, warnte George Orwell in „1984“. Im Deutschland der Gegenwart wollen uns dagegen viele Brüder- und Schwesterlein kontrollieren.

Kleine Große Brüder

Tatort Augsburger Tram, Strecke Textilviertel–Westfriedhof, unter Pandemiebedingungen: Gefühlt ein dutzend Mal erinnert eine elektronische Stimme daran, dass nur Geimpfte und Genesene Zutritt zu den Fahrzeugen haben, dass FFP2- Masken zu tragen sind, und wünscht final eine – seltsame Diktion – „gesunde Fahrt“. Die Verhaltensmaßregeln flimmern zeitversetzt – neben den Tagesschlagzeilen meiner Lieblingszeitung – auch über die Bildschirme der Cityflex-Tram und ergeben, zusammen mit den zweispracheigen Haltestellen- und Verbindungsansagen („Next stop – the chamber of commerce and industry“), eine akustische Dauer-Brainwash-Berieselung. Irgendwie habe ich da so ein Déjà-vu-Gefühl.

Und dann fällt es mir ein. Die Szene erinnert mich ein wenig an 1984, den dystopischen Roman von George Orwell. Man sollte ihn immer wieder mal lesen, wenn die Erinnerungen an die Pflichtlektüre aus Schulzeiten zu verblassen droht. Ich habe es jüngst wieder getan – und bin erschrocken: Es hat zwar 38 Jahre länger gedauert als von Orwell anno 1949 (Erscheinungsdatum) prophetisch datiert – aber seine pessimistische Vision funktioniert. In der Realität des Jahres 2022.

Eine steile These, finden Sie? Nun, dann wollen wir mal ein paar Eckpunkte von Orwells Werk genauer betrachten, in dem ein totalitärer Überwachungsstaat  im Jahr 1984 dargestellt wird. Hauptperson der Handlung ist Winston Smith, ein einfaches Mitglied der Staatspartei Sozialistische Partei Englands. Der allgegenwärtigen Überwachung zum Trotz will Smith seine Privatsphäre sichern und etwas über die Vergangenheit erfahren, die die Partei durch umfangreiche Geschichtsfälschung  verheimlicht. Dadurch gerät er mit dem System in Konflikt, das ihn gefangen nimmt und einer Gehirnwäsche unterzieht.

Soweit Orwell. Wer sein Buch noch einmal nachlesen will, findet hier den Text auf deutsch zum Download. Dauert zum Lesen zu lange? Dann einfach hier zur Synopse auf Wikipedia klicken.

Einzelne Elemente des Orwell'schen Staats finden sich schon heute in gesellschaftlichen Entwicklungen wieder, zum Beispiel…

Neusprech. Bei Orwell soll Neusprech nach und nach die Alltagssprache („Altsprech“) verdrängen und dient dazu, den Wortschatz zu reduzieren, um so differenziertes Denken zu erschweren. Ähnliches erleben wir aktuell auf vielen sprachlichen Ebenen – vom verordneten Gender-Gaga-Sprech bis hin zu vielfältigen Sprachregelungen, die „politisch korrekt“ sein sollen. Da wird dann der Ausländer zum Menschen mit Migrationshintergrund, der Behinderte zum „Andersbegabten“, und irgendwann wird der Begriff „Zwerg“ wahrscheinlich durch „vertikal Benachteiligte“ ersetzt.

Hasswoche. Die Hasswoche ist in 1984 eine Propagandaveranstaltung, die dem Hass auf politische und militärische Gegner gewidmet ist. Wie austauschbar diese Gegner für das System sind, zeigt eine Szene, in der der Hassredner mitten in seiner Rede einen Zettel zugeschoben bekommt, auf dem steht, dass der Gegner gewechselt hat. Ohne zu stocken setzt er seine Tirade fort; Hassobjekt ist nun der neue Gegner. Die kleine Schwester der Hasswoche ist der tägliche Zwei-Minuten-Hass, an dem jeder teilnehmen muss. Anklänge daran sind in der Gegenwart zum Beispiel in der „Alte-weiße-Männer“-Debatte zu erkennen, die von interessierten KreisInnen so empathiefrei geführt wird, als gelte es, Massenmörder dingfest zu machen.

Gedankenverbrechen. Im Jahre 1984 werden kritische Gedanken, die die Doktrin  des fiktiven Staates Ozeanien in Frage stellen, als Staatsverbrechen behandelt. Das erklärte Ziel der herrschenden totalitären Partei ist, durch die Einführung von Neusprech, durch ständige Verfälschung der Geschichte und durch totale Kontrolle und Bedrohung den Bürgern die Möglichkeiten zu entziehen, diese „Gedankenverbrechen“ zu begehen. Und wer das nicht anerkennt, begeht auch ein Gedankenverbrechen. Es gilt auch als Verbrechen, nicht den je nach Anlass geforderten freudigen, ernsten oder auch hasserfüllten Gesichtsausdruck zu tragen. Übertragen auf aktuelle Verhältnisse: Im politischen Diskurs sind bereits heute Themenbereiche tabuisiert. Viele Jahre durfte offiziell etwa kein Zusammenhang zwischen Kriminalität und der Herkunft der Täter hergestellt werden. Sexueller Missbrauch durch Frauen wurde, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte, weder erkannt, noch thematisiert, noch verfolgt, noch gesellschaftlich sanktioniert. Asylmissbrauch, den es ja in Einzelfällen ohne Zweifel gibt, durfte nur um den Preis benannt werden, in die „rechte Ecke“ gestellt zu werden. 

Kontrolle der Vergangenheit. Ein elementares Konzept der Partei zur Kontrolle der Gedanken ist bei Orwell die Kontrolle der Vergangenheit. Deshalb wird im „Ministerium für Wahrheit“ ein gigantischer Aufwand betrieben, alle existierenden Dokumente der gegenwärtigen Parteilinie anzupassen. Ein Schelm, wer dabei nicht an die aktuellen Umbenennungen historischer Straßen- oder Hotelnamen („Drei Mohren“) denkt.

Unperson. Politische Gegner werden auf Neusprech liquidiert („verflüssigt“), vaporisiert („verdampft“) oder gar vor einem Massenpublikum öffentlich erhängt. Damit allein ist die Partei aber nicht zufrieden: Jede Erinnerung an die Ermordeten muss ausgelöscht werden; sie werden zur Unperson – es gibt sie nicht, es hat sie nie gegeben. Was bei Orwell noch als bizarre Übertreibung erscheint, ist längst im deutschen Alltag des Jahres 2022 angelangt: Man denke nur an die Diskussion um die Umbenennung der Werner-Egk-Schule in Augsburg. Man warf dem Komponisten zu große Nähe zu den Nazis im Dritten Reich vor. Der Streit ging letztlich wie das Hornberger Schießen aus. Zuvor war die öffentliche Debatte um Egk allerdings so ernsthaft bis verbissen geführt worden, dass Verletzungen bleiben.

Der Große Bruder. Orwells Figur bekommt im Roman niemand  je zu Gesicht, er scheint nur die fiktive Personifizierung einer Kollektivherrschaft zu sein. In unserer Gesellschaft wird „Big Brother“ nicht ohne Grund in alarmierenden Szenarien häufig genannt. Seine große Zeit hatte das Orwell-Zitat in den Datenschutzdiskussionen von den 1970-er Jahren bis hin zur jüngsten Schöpfung, der DSGVO. Dank ihr ist der Datenschutz nun endgültig zu dem geworden, wovor eigentlich gewarnt worden war – zu einem Großen Bruder, einem Moloch, der die Menschen auf Schritt und Tritt begleitet („Cookies akzeptieren“) und der etwa in der Corona-Pandemie zum echten Hindernis für eine effektive Bekämpfung der Seuche  wurde.

Hier zeigt sich, dass die Eingangsthese – „Es hat zwar 38 Jahre länger gedauert als von Orwell anno 1949 prophetisch datiert – aber seine pessimistische Vision funktioniert. In der Realität des Jahres 2022.“ – so steil gar nicht ist, wie sie zunächst erschien. Ja, natürlich: Die bundesrepublikanische Gegenwart kommt beileibe nicht so düster daher wie die des Orwell'schen Ozeanien. Uns überwacht ja auch kein Big Brother. Dafür aber viele kleine Brüder- und Schwesterlein, die uns zur Einhaltung von irgendwelchen Gesellschaftszielen, Formulierungen, Tätigkeiten und Verhaltensmustern drängen.

Es muss ja nicht so enden wie bei Orwell. Aber aufpassen sollte man schon – und sich schon der Anfänge erwehren.

Fortsetzung folgt.