Konservativ? Konservativ!

Konservativ – das neue Schimpfwort?
Konservativ – das neue Schimpfwort?

Das neue Schimpfwort?

Vor Kurzem habe ich einen Blogbeitrag über „Auferstanden aus Ruinen“, das neue Buch von Sahra Wagenknecht, fertig gemacht und online gestellt. Geschrieben hatte ich ihn am Vortag. Am nächsten Morgen fand ich dann in meiner Facebook-Timeline einen Kommentar aus der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), in dem quasi zeitgleich genau dieses Thema ebenfalls aufgegriffen wurde. Natürlich weiß ich, dass der Datenkrake Facebook mein Interesse an dem umstrittenen Wagenknecht-Opus nicht verborgen geblieben war – daher die Meldung. Aber ein erstaunlicher Zufall ist es doch, dass die große NZZ und der kleine Ruhestandsblogger synchron über Wagenknechts Werk geschrieben hatten. Was ich in meiner Besprechung von „Die Selbstgerechten“ noch zu erwähnen vergessen hatte,  möchte ich nun in einem zweiten Artikel nachtragen.

Es geht darin um die gesellschaftliche Wertschätzung von Eigenschaften wie Anstand, Maßhalten, Zurückhaltung, Zuverlässigkeit oder Treue. Eigenschaften, für die Menschen heutzutage als „konservativ“ eingeschätzt, bestenfalls belächelt oder schlimmstenfalls gescholten werden. Wagenknecht schreibt dazu: „Der Begriff ist nicht falsch. Menschen, die so denken, wollen tatsächlich ein Wertesystem erhalten und vor Zerstörung bewahren, das im globalisierten Kapitalismus unserer Zeit unter massivem Druck steht und teilweise bereits zerbrochen ist. Dieses Wertesystem ist gemeinschaftsorientiert, es betont die Bedeutung von Bindungen und Zugehörigkeit.“  Dieser Wertkonservatismus habe allerdings mit dem politischen Konservatismus, also den Parteien, die sich in den verschiedenen Ländern konservativ nennen, kaum etwas zu tun: „Besonders unrühmlich ist die Geschichte des deutschen politischen Konservatismus. Er war im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert preußisch-autoritär und in seiner wütenden Verteidigung bestehender Besitzverhältnisse antidemokratisch und illiberal. Die von ihm angestrebte Volksgemeinschaft trug erkennbar rassistische Züge, weshalb er nicht zu Unrecht als Vorläufer des Nationalsozialismus angesehen wurde. Dieser Seitenstrang konservativen Denkens und konservativer Politik ist verdientermaßen mit den Nazis untergegangen.“

Der sogenannte „Wertkonservatismus“ habe aber nicht nur die meisten konservativen Parteien zum Gegner, sondern, so Wagenknecht, „auch den Linksliberalismus: Letzterem gelten Menschen mit wertkonservativen Einstellungen als rückwärtsgewandt und sie werden verdächtigt, überholte Vorurteile und Ressentiments zu pflegen. Linksliberale fühlen sich daher berufen, ihnen ihre Sichtweise auszureden und sie moralisch in ein schlechtes Licht zu rücken“ – eine Erfahrung, die Menschen, die nicht mit den Mainstream-Wölfen der Genderer, Umbenenner und Political-correctness-Geschichtsklitterer heulen, fast täglich machen. Die Frage ist nur – und Wagenknecht stellt sie: „Mit welchem Recht? Steht wirklich auf der Seite der Aufklärung und des Fortschritts, wer daran arbeitet, traditionelles Gemeinschaftsdenken und die aus ihm folgenden Werte und Gerechtigkeitsvorstellungen zu diskreditieren und zu delegitimieren?“

Tatsächlich sind laut Wagenknecht die Werte und Gerechtigkeitsvorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung verinnerlicht hat, nicht nur konservativ, sondern auch originär links: Sie wünschen sich Stabilität, Sicherheit und Zusammenhalt und gerade deshalb mehr sozialen Ausgleich und weniger Verteilungsungerechtigkeit. Sie spüren, dass eine globalisierte Marktgesellschaft genau die Gemeinschaftsbindungen, Werte und Traditionen zerstört, die ihnen wichtig sind. Sie fordern Veränderung, weil sie Werte bewahren möchten.

Feststellbar sei aber, dass sich Be- und Verurteilung von Ansichten immer mehr auf eine persönliche Ebene verlege. Auch dazu hat Wagenknecht eine These, die den Schluss ihres Buches bildet und als eine Art Quintessenz hier im vollen (und langen) Wortlaut zitiert werden soll: „Persönliche Lebensstile sind Privatsache und sollten nicht länger politisiert werden. Sie hängen meist von Lebensumfeld, Ausbildung und Beruf und natürlich auch von den finanziellen Möglichkeiten ab. Zu allen Zeiten haben Akademiker anders gelebt als die meisten Nichtakademiker. Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen legen in der Regel größeren Wert auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung als auf traditionelle Gemeinschaften, sie sind eher mobil als sesshaft, sie kennen unterschiedliche Kulturen und definieren sich daher in geringerem Grad über die eigene nationale. Schon in der Weimarer Republik lagen Welten zwischen dem urbanen Leben und den Wertvorstellungen linker Intellektueller und der Kultur und Lebensart der Arbeiterschaft. Aber die linken Intellektuellen jener Zeit wären nicht im Traum auf die Idee gekommen, ihre Unterstützung linker Parteien davon abhängig zu machen, dass diese Parteien ihre kulturellen Wertmaßstäbe übernehmen. Wenn auch die linksliberalen Akademiker unserer Zeit einsehen würden, dass sie kein Recht haben, ihren Lebensentwurf zum Maßstab progressiven Lebens zu machen und auf alle herabzuschauen, die anderen Werten folgen und eine andere Sicht auf die Welt haben, wäre viel gewonnen."

Dem hatte Sahra Wagenknecht offenbar nichts hinzuzufügen. Und ich auch nicht.

 

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